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Radix 2011



De Bernardo & Mozzini – Radix 2011
Text von Boris Magrini (Uebersetzung: Barbara Sauser)

Die neuen Ausgrabungen in Samstagern bestätigen, dass eine besondere keltische Gemeinschaft, vermutlich eine autonome Gruppe aus dem Helvetierstamm, zwischen dem 3. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. am Westufer des Zürichsees siedelte. Der Volksstamm von Samstagern, der nach der Eroberung durch die Römer verschwand, unterscheidet sich in einigen Aspekten von den keltischen Völkern. Es handelte sich sehr wahrscheinlich um eine Gesellschaft pazifischer Natur, die sich vornehmlich dem Ackerbau widmete, wie die Entdeckung allegorischer Gegenstände und Rituale nahelegt, die nicht in Zusammenhang mit einem Universum des Kriegs stehen, sondern mit dem Kult der Fruchtbarkeit und des Ackerbaus. Statt Schmuckstücken, Krügen und Waffen fand man in den Grabstätten vergoldete Abgüsse von Wurzel-, Knollen- und Zwiebelgemüse, die vermutlich den Zweck hatten, die Verstorbenen im Tod oder bei ihrer Rückkehr auf die Erde zu begleiten. Die Aufwertung von Gemüse zu rituellen Gegenständen lässt darauf schliessen, dass der Stamm einen Fruchtbarkeitskult pflegte, der mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einen weit zurückliegenden, verwandten Kult der Grossen Göttin zurückgeht. Die Fundstücke von Samstagern werden vielleicht zur Bestätigung der Hypothesen von Marija Gimbutas beitragen, denen zufolge die indogermanische Mythologie durch die prähistorischen Epochen hindurch bis in die neuen europäischen Zivilisationen überlebte.

In Wirklichkeit sind die Ausgrabungen von Samstagern nur Fiktion, sie sind ein Werk der beiden Künstler Oppy de Bernardo und Aldo Mozzini, die von der Familie Blum eingeladen wurden, auf ihrem Bauernhof und Grundbesitz ein Kunstwerk zu schaffen. Sie konzipierten die Ausgrabungen, legten als Grabstätte ein Fundament aus Zement an, schufen die Abgüsse der Gemüse, vergoldeten sie und legten sie auf der Platte so aus, dass sie eine sinnträchtige Ordnung vortäuschen. Bei der Interpretation der falschen Fundstücke als Zeugen einer angenommenen keltischen Zivilisation handelt es sich ebenfalls um Fiktion, um eine freie Lesart des Werks, die nicht unbedingt das Interesse von Leuten wecken will, die sich für die Pseudoarchäologie oder Charles Fort begeistern, vielmehr sieht sie im Kunstwerk die fantasievollen Reflexionen der Künstler über die Ursprünge unserer Zivilisation. Andererseits, wenn unsere Kenntnisse der Vergangenheit nichts anderes sind als Hypothesen, die auf zusammengetragenen und analysierten Fundstücken beruhen – und folglich auf der Unkenntnis all jener Zeugnisse, die uns nicht überliefert wurden–, wie soll man da Realität und Fiktion überhaupt auseinanderhalten? Was unterscheidet De Bernardos und Mozzinis falsche Fundstücke von rekonstruierten Gräbern, Werkzeugen und anderen Gegenständen, die in vielen Archäologiemuseen zu didaktischen Zwecken ausgestellt werden und von unaufmerksamen Besuchern vielleicht für authentisch gehalten werden? Die Pseudofunde von Samstagern existieren in diesem Gebiet ab sofort und sie sind, auch wenn es sich zugegeben um falsche Zeugnisse und eine unwahrscheinliche Rekonstruktion einer vergangenen Zivilisation handelt, dennoch reelle Zeugnisse der heutigen Zivilisation. Sie erzählen uns nicht nur von unserer Kultur, sondern auch von unseren Ansichten über die Geschichte unserer Zivilisation.
Mehr noch als um die Konstruktion einer archäologischen Fiktion geht es den Künstlern De Bernardo und Mozzini aber um das Spiel mit dem Ausstellungsort, dem Bauernhof, also dem Ort, an dem die für die Entwicklung und das Schicksal unserer Zivilisation so bedeutsame bäuerliche Arbeit stattfindet. Dabei unterstreichen sie dessen Symbolhaftigkeit, und zwar nicht nur im Kontext der heutigen Gesellschaft, sondern letztlich mehr oder weniger der ganzen Zivilisation von der Vorzeit bis in die Gegenwart. Warum sollte es eigentlich undenkbar sein, dass ein Volk, statt die Jagd zu preisen und den Krieg zu feiern, das Gemüse in den Mittelpunkt seiner sakralen Bilderwelt stellt, also Knollen, Zwiebeln und Wurzeln, die die bäuerliche Praxis am besten symbolisieren? Natürlich gibt es in der abendländischen Kunstgeschichte immer wieder Beispiele von Darstellungen bäuerlicher Arbeit bis hin zu ihrer Apotheose in den Genrebilder der flämischen Malerei, die der Entwicklung des Stillebens voranging. Trotzdem schneiden die Knollen, Wurzeln und Zwiebeln sogar im reich variierten Panorama der Stilleben schlecht ab, was vielleicht auch an ihrer moralisierenden Art liegt, da es ja vorwiegend um die Allegorie der Vergänglichkeit ging. Die Meister dieses Genres gaben eher Obst in kräftigen Farben und üppigen Blumen den Vorzug, um so die Flüchtigkeit des materiellen Lebens stärker zu betonen. Aber vielleicht auch, scheinen uns die Künstler De Bernardo und Mozzini zu sagen, weil die Menschen unmittelbare Freuden stets bevorzugten, also lieber im Sonnenlicht wachsendes süsses Obst und hübsche Blumen priesen. Das weniger elegante und nicht gerade dekorative Wurzelgemüse wurde trotz seiner grundlegenden Bedeutung für die Ernährung vernachlässigt, vergessen und, so wie es aus dem Versteck unter der Erde auf die Welt kam, beinahe verborgen gehalten. Das Werk ist weniger die Inszenierung eines unwahrscheinlichen architektonischen Funds als vielmehr die Hommage an Gemüse, das in der abendländischen Bilderwelt oft vergessen wird. Die Künstler bringen es ans Licht der Sonne und verherrlichen es durch den Prozess des Vergoldens, so wie das Vergolden in der byzantinischen Kunst dazu diente, die heiligen Elemente einer Komposition hervorzuheben. Analog dazu ist es auch eine Hommage an die bäuerliche Arbeit im Allgemeinen und speziell an den Ort des Kunstwerks: den Bauernhof der Familie Blum, der dank des Engagements des Künstlers und Kurators Martin Blum seit einigen Jahren als provokativer Ausstellungsort der anderen Art dient, an dem eingeladene Künstler in ungewöhnlichen Räumen Werke schaffen, und der zugleich urbanes Publikum in die Peripherie lockt. Die alte Dichotomie des Nebeneinanders von Kultur und Natur könnte nicht besser illustriert werden.



 


Dank an:
Martin Sonderegger
Erika Fankhauser Schürch
Lea Mozzini
Alessandro Mozzini
Pino De Bernardo
Mario Giovinazzo

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